Schöne alte Welt
Florian Kaufmann untersucht die Möglichkeiten einer genossenschaftlichen Organisation von Buchläden
Von Jörg Auberg
»Alles geht jetzt dem Ende zu.
Dem Ende? fragt Lemm.
Ja, dem Ende.«1
Ror Wolf, »Von links nach rechts«
In seinem kurzen Roman Schletti aus dem Jahre 1986 beschreibt der Schweizer Autor Hans Rudolf Hess, wie ein Buchantiquar von einem Moment zum anderen in der Regalwelt seiner gehorteten Bücher verschwindet. Der Antiquar sei, so wird berichtet, »mit dem ihm eigenen Schritt zwischen zwei Bücherwänden verschwunden« und »nicht mehr gesehen worden«.2 Diese Szene kann als »Synekdoche« für das Verschwinden des »linken Buchhandels« in den 1980er Jahren fungieren. In den Nachhutgefechten der »68er« entstanden in der »alten Bundesrepublik« kollektiv geführte politische Buchhandlungen, welche die neu entstehenden politischen Parteien aus dem maoistischen Umfeld oder sozialen »alternativen« Bewegungen (die sich das Etikett »undogmatisch« zulegten) mit Literatur und Flugschriften versorgen sollten.
Bezeichnenderweise erklärte der US-amerikanische Filmwissenschaftler James Monaco den Begriff »Synekdoche« in seinem Standardwerk How to Read a Film (dt. Film verstehen) mit einem Szenenfoto aus Jean-Luc Godards Film La Chinoise (1967), in dem sich Juliet Berto hinter einer »theoretischen Barrikade« aus Maos »kleinen roten Büchern« verschanzt.3 In Frankfurt am Main etablierte sich nahe der Universität der »Polibula« (zunächst als Unternehmen der »Roten Zellen«, später als Kollektiv des KBW), der vor allem Texte der ML-Gruppen vertrieb, aber auch Mitglieder der »undogmatischen« Linken anlockte.4. Neben diesen »Parteibuchhandlungen« wurden auch »unabhängige« linke Buchläden in kollektiver Regie ins Leben gerufen, die mit ihrem Vertrieb gesellschaftskritischer Literatur linker Provenienz zunächst in eine Marktlücke stießen: »Noch gegen Ende der sechziger Jahre«, beobachtete Sven Reichardt in seiner Studie des linksalternativen Milieus in den 1970er Jahren, »weigerte sich so manche etablierte Buchhandlung, linke Literatur ins Sortiment zu nehmen.«5 Die marktbeherrschende Stellung von lokalen Buchhandlungen wurde jedoch schon in den 1970er Jahren durch den Versandbuchhandel (wie ihn Unternehmen wie Mail Order Kaiser, Montanus, Zweitausendeins oder Wohlthat betrieben) unterlaufen. In späteren Jahrzehnten litten auch kleinere Buchhandlungen des linken Milieus unter den Folgen der Rationalisierungs- und Konzentrationstendenzen im traditionellen Buchhandel, der – wie Reinhard Wittman in seiner Geschichte des deutschen Buchhandels schreibt – die »Notwendigkeit strikt marktorientierter Betriebsführung« erkannte und ideologische Schranken aus Gründen der Profitmaximierung fallen ließ.6 Die »alternative Öffentlichkeit« verlangte nicht mehr nach ausschließlich »politischen« Buchhandlungen, da nach den Jahren des »Theoretisiererns« nicht nur das Begehren nach »Belletristik« in das eigene Milieu eingesickert war, sondern der Verkehr auch für die »Esoterik« geöffnet wurde. Damit geriet das dezidiert politische Moment der »Gegenöffentlichkeit« ins Hintertreffen, deren »wenig begehrten Objekte« fast »schamhaft in einer dunklen, entlegenen Nische« verstaut wurden, um schließlich ganz – wie der Antiquar Schletti – aus dem Blickfeld zu verschwinden.7
Dass kollektiv oder genossenschaftlich geführte Buchhandlungen keineswegs der Vergangenheit angehören, ruft Florian Kaufmanns Dissertation »Kooperatives Wirtschaften – Stabilität von Produktivgenossenschaften in der Marktwirtschaft« in Erinnerung, die unter dem Titel Gemeinsames Aufbrechen: Kollektive Buchläden in der BRD in Buchform vorliegt. Darin beschreibt Kaufmann die Entwicklung genossenschaftlicher Betriebe im westdeutschen Buchhandel, die sich primär als Gruppenunternehmen im Nachzug der »68er«-Bewegung konstituierten, um im Rahmen einer Selbstorganisation und Selbstverwaltung die Trennung von beruflicher und sozialer Aktivität zu überwinden. Dabei entstanden neben den Parteibuchläden der DKP (Deutschen Kommunistischen Partei) und des KBW (Kommunistischen Bundes Westdeutschlands) auch länger- oder langlebige Unternehmen wie der »Buchladen Rote Straße« in Göttingen, der »Buchladen Roter Stern« in Marburg, die »Karl-Marx-Buchhandlung« in Frankfurt/Main, die »Heinrich-Heine-Buchhandlung« in Hamburg, der »Buchladen am Savignyplatz« in Westberlin und die Buchhandlung »Jos Fritz« in Freiburg.
Anhand dreier Fallbeispiele stellt Kaufmann das Gelingen und Scheitern der genossenschaftlichen Praxis im Buchhandel dar. Das Kollektiv der Buchhandlung »Jos Fritz« steht für den »Erfolgsfall« eines Buchladenprojekts, das über die Jahre seine Existenz sichern konnte, obgleich der explizit politische Anspruch der Buchhandlung (der seinen Ursprung in der ideologischen Engstirnigkeit der Gründerzeit besaß) aufgegeben wurde. Als zweites Beispiel beschreibt er den Fall des nicht mehr existenten »Internationalismus-Buchladen« in Hannover, der mit dem Ende der sie tragenden politischen Bewegung verschwand. Ein drittes Beispiel ist die Kölner Buchhandlung »Das politische Buch«, die ihre Existenz nur in privatisierter Form zu sichern vermochte, was als Scheitern des kollektiven Modells ausgelegt werden könnte.
In seiner Diskussion der drei beschriebenen Fallbeispiele listet Kaufmann verschiedene Faktoren auf, die zum Entstehen und zur Entwicklung der kollektiven Buchhandlungen beitrugen. Zunächst war der Standort des Buchladens von Bedeutung: Zumeist befand sich der Laden im Stadtteil oder in der Nähe einer Universität, womit er im sozialen Milieu der »neuen Arbeiterklasse« verankert wurde (wie die Schicht der »Technologen« in einer Theorie in den 1970er Jahren charakterisiert wurde).8 Ein weitere Faktor war die Verankerung in politischen oder sozialen Bewegungen, die zwar die Buchladenprojekte in kurzfristigen Solidaritätskampagnen retten, aber nicht langfristig deren Existenz sichern konnten. An die Stelle des politischen oder sozialen Engagements der Buchladen-Kollektive trat daher eine »Networking«-Praxis: Viele linke Buchhandlungen in der Nähe von Universitäten profitierten auch nach dem Ende des politisch-sozialen Aufbruchs vom »Marsch durch die Institutionen«, denn ehemalige Aktivist*Innen an den Fachbereichen sorgten für Bestellaufträge in den ehemals »politischen« Buchläden. Zudem entschied über Wohl und Wehe eines Buchladenprojekts der »Grundwiderspruch« der alternativen Praxis: Sollte das Ideal des Kollektivismus aufrecht erhalten oder eine »Professionalisierung« Einzug einhalten, die letztendlich die Einbettung in das kapitalistische System vorbereitete und die Profitmaximierung über den Anspruch der »Andersartigkeit« stellte?
In Kaufmanns Fazit ist das Modell der Selbstverwaltung im kapitalistischen System nicht zum Scheitern verurteilt: Es sei eine mögliche Option auf einen begrenzten Freiraum in einer hierarchisch, ausschließlich auf Profitmaximierung orientierten Wirtschaft. Eine Transformation der herrschenden Verhältnisse findet jedoch auch in diesen kleinen Zellen der »Andersartigkeit« nicht statt. Tatsächlich symbolisieren die überlebenden Kollektiv-Buchhandlungen die Symbiose von »Sozial- und Künstlerkritik«, die Luc Boltanski und Ève Chiapello als Charakteristikum des »neuen Geistes des Kapitalismus« bezeichneten.9 Auch wenn die große Transformation nicht gelang: Zumindest bieten die verbliebenen linken Buchläden die Aussicht auf eine bessere Gestaltung der Gesellschaft. Mit seinen akribischen Analyse der Möglichkeiten genossenschaftlicher Buchhandlungen (die er nicht zuletzt durch die Befragung aktueller oder ehemals beteiligter Mitarbeiter*Innen von kollektiven Buchläden ans Tageslicht bringt) trägt Kaufmann zu einer Sozialkritik bei, die über den dominanten neoliberalen Ansatz der profitorientierten Vermarktung der Ware Buch (wobei selbst faschistische Propagandawerke aus Gründen »strikt marktorientierter Betriebsführung« skrupellos vertrieben werden) und des »Event-Marketings« hinausgeht. Die genossenschaftliche Organisation eines Buchladens bedeutet jedoch nicht, dass damit automatisch ein ambitioniertes Programm jenseits des handelsüblichen Sortiments verbunden wäre.
Mit Ror Wolf gesprochen: »Schluss folgt«.10
Bildquellen (Copyrights) |
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Collage Godard-Filme | © Jörg Auberg |
Logo Buchladen Roter Stern | © Buchladen Roter Stern (Marburg) |
Cover Gemeinsames Aufbrechen | © AG SPAK |
Statement Heinrich-Heine-Buchhandlung (Hamburg) | © Heinrich-Heine-Buchhandlung (Hamburg) |
Bibliografische Angaben:
Florian Kaufmann.
Gemeinsames Aufbrechen:
Kollektive Buchläden in der BRD.
Neu-Ulm: AG SPAK, 2020.
228 Seiten, 24 Euro.
ISBN: 978–3‑945959–46‑6.
Nachweise
- Ror Wolf, Danke schön. Nichts zu danken (Frankfurt/Main: Frankfurter Verlagsanstalt, 1995), S. 148 ↩
- Hans Rudolf Hess, Schletti (Bern: Zytglogge, 1986), S. 8 ↩
- James Monaco, How to Read a Film (1977; rpt. New York: Oxford University Press, 2013), S. 139 ↩
- Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt: Unsere kleine deutsche Kulturrevolution, 1967–1977 (Frankfurt/Main: Fischer, 2002), S. 429 ↩
- Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft: Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren (Berlin: Suhrkamp, 2014), S. 589 ↩
- Reinhard Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels, 4. Auflage (München: C. H. Beck, 2019), S. 435 ↩
- Jörg Auberg, »Texte und Kadaver: Vom Elend der Gegenöffentlichkeit«, in: Verzeichnis der Alternativmedien: Ausgabe 1991/92 (Amsterdam: Edition ID-Archiv, 1991), S. 15 ↩
- cf. Alvin W. Gouldner, The Dialectic of Ideology and Technology: The Origins, Grammar, and Future of Ideology (London: Macmillan, 1976), S. 250–274 ↩
- Luc Boltanski und Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, übers. Michael Tillmann (Köln: Halem, 2018), S. 215–220 ↩
- Ror Wolf, Danke schön. Nichts zu danken, S. 152 ↩